Jessica Tatti
MdB

Im Bürgergeldentwurf von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil fehlt die öffentlich angekündigte Sondererhöhung des Regelsatzes für Menschen in Hartz IV und Sozialhilfe. Wenn hierzu nicht nachbessert wird, steigt der Regelsatz entsprechend der gesetzlichen Regelungen lediglich rund 4,5 oder 4,6 Prozent – weit weniger als der Kaufkraftverlust.

„Die gesetzlich verankerte Erhöhung der Regelsätze für 2023 hängt von den Preis- und Lohnentwicklungen zwischen Juli 2021 und Juni 2022 im Vergleich zum Vorjahr ab. Die Höhe wurde von der Regierung noch nicht bekannt gegeben. Sie lässt sich aber mittlerweile ganz gut einschätzen: Die Regelsätze in Hartz IV und Sozialhilfe werden im kommenden Jahr regulär um 4,5 oder 4,6 Prozent steigen, so meine Überschlagsrechnung. Für Alleinstehende wären das 21 Euro monatlich mehr. Schon um den Kaufkraftverlust auszugleichen, müsste die Erhöhung aber doppelt so hoch sein. Denn die Inflation lag im Juli bei über 7 Prozent und könnte laut Experten auf bis zehn Prozent am Jahresende steigen“, ordnet Jessica Tatti, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag ein.

Tatti weiter: „Die Gesetze zur Regelsatzerhöhung hinken der Preisentwicklung weit hinterher. Das hat in der aktuellen Lage dramatische Auswirkungen für die Betroffen. Die Preise, gerade für Lebensmittel und Strom, sind seit März in die Höhe geschossen. Lebensmittel: plus 13 Prozent, Energie: plus 40 Prozent. Und das schon vor der Gasumlage. Diese steigenden Preise werden sich regulär erst 2024 in den Regelsätzen niederschlagen. Zudem sind die Regelbedarfe politisch so kleingetrickst, dass sie man schon vor der Inflation kaum über die Runden kam. Bei dieser Riesenlücke zwischen Inflation und Hartz IV wird es bitter. So kann man nicht einmal mit höchster Sparsamkeit leben. Schulden, tägliche Existenzängste und reale Armut sind die Folgen der sozialen Kälte der Ampel. Das ist völlig inakzeptabel. Ich fordere die Bundesregierung auf, sofort zu handeln: Hartz IV und Sozialhilfe müssen um 200 Euro im Monat steigen.“

Informationen zur Abschätzung der regulären Erhöhung der Regelbedarfe im SGB II und SGB II

Die jährliche Erhöhung der Regelbedarfe wird durch Verordnung des Bundesministeriums Arbeit und Soziales bekannt gegeben. Deren Berechnung regelt § 28a SGB XII. Maßgeblich ist ein Mischindex aus Preisentwicklung der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen (70 Prozent) und Lohnentwicklung (30 Prozent).

Preisentwicklung

Maßgeblich ist nicht die allgemeine Inflationsrate, wie sie etwa in den Medien kommuniziert wird, sondern die Inflation der Güter und Dienstleistungen, die im Regelbedarf enthalten sind.[1] Das bedeutet, dass z.B. die Preisentwicklung für Heizöl und Gas sowie Benzin nicht in dieser Rate enthalten

  Regelbedarfsrelevante Preisentwicklung
(Quelle: siehe FN 2)
Zum Vergleich: Inflation zum Vorjahr in %
(lt. DESTATIS)
Indexwert Preisentwicklung zum Vorjahr in %
2021
Januar 106,53 +0,8 +1,0
Februar 107,01 +0,7 +1,3
März 107,17 +0,6 +1,7
April 107,82 +0,4 +2,0
Mai 108,19 +0,6 +2,5
Juni 108,17 +1,0 +2,3
Juli 108,21 +3,3 +3,8
August 108,33 +3,3 +3,9
September 108,61 +3,5 +4,1
Oktober 108,86 +3,5 +4,5
November 109,05 +3,7 +5,2
Dezember 109,65 +4,6 +5,3
2022
Januar 110,69 +3,9 +4,9
Februar 111,39 +4,1 +5,1
März 112,71 +5,2 +7,3
April 114,95 +6,6 +7,4
Mai 116,21 +7,4 +7,9
Juni 115,32 +6,6 +7,6
Juli 115,92 +7,1 +7,9

sind: Heizkosten, da sie über die Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe bis zu einer bestimmten Obergrenze erstattet werden, Benzin und andere Treibstoffe, da alle Kosten rund um Kraftfahrzeuge aus dem Regelsatz herausgerechnet werden. Die regelbedarfsrelevante Veränderung der Verbraucherpreise – bzw. die Veränderung des Indexwerts, wird monatlich im Statistischen Bundesamts an das BMAS geliefert. Diese Daten werden nicht veröffentlicht. Versuche, dies zu ändern, sind gescheitert.[2] Daher fragt DIE LINKE durch Schriftliche Fragen. Die Ergebnisse finden sich in der Tabelle.

Um die in die Regelbedarfserhöhung einfließende Inflationskomponente zu berechnen, muss berücksichtigt werden: Für die Regelbedarfsanpassung 2023 werden die Veränderung des Preisindexes zwischen Juli 2021 (108,21) und Juni 2022 (115,32) herangezogen. Es zählt dabei der gesamte Zeitraum, nicht der jüngste Wert.[3]Aus diesen Daten kann annäherungsweise berechnet werden, dass die regelbedarfsrelevante Preissteigerung 4,6 oder 4,7 Prozent betrug.[4]

Lohnentwicklung

Maßgeblich für diesen Anteil der Regelbedarfserhöhung ist die Entwicklung der durchschnittlichen Nettolöhne und -gehälter je beschäftigten Arbeitnehmer nach den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR). Auch hier werden nicht die Juni-Werte des Vorjahrs mit dem Vorvorjahr verglichen, sondern der durchschnittliche Wert von Juli 2021-Juni 2022 mit dem durchschnittlichen Wert von Juli 2020-Juni 2021. Der Ausgangswert für den Durchschnitt der Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer nach den VGR beträgt 25.333 Euro im Zwölfmonatszeitraum Juli 2020 bis Juni 2021.[5] Für den Zeitraum Juli 2021 bis Juni 2022 ist der offizielle Wert und damit die prozentuale Lohnentwicklung noch nicht bekannt, sie lässt sich aber bei 4,3 oder 4,4 Punkten +/- 10 Prozent schätzen.[6]

Erhöhung der Regelbedarfe ab 01.01.2023 (Schätzung)

Aus der gewichteten Zusammenführung der Schätzwerte für Preis- und Lohnentwicklung ergibt sich eine Erhöhung der Regelbedarfe im SGB II und SGB XII von rund 4,5 oder 4,6 Prozent. Dieser Wert könnte um bis zu 0,2 Punkte zu niedrig oder zu hoch gesetzt sein. Eine solche Erhöhung der Regelbedarfe läge weit unterhalb des Werts, der notwendig ist, den realen Kaufkraftverlust auszugleichen. Dieser lag bereits im Juli bei zwischen 7 und 8 Prozent und wird laut Experten ab Oktober bis Jahresende weiter steigen (Wegfall Mobilitätsvergünstigungen, Gasumlage) – auf bis zu 10 Prozent[7].

Regelbedarfsstufen     2022 Schätzung 2023 Erhöhung
1: Alleinstehende, Alleinerziehende 449 € 469 – 470 € 20 – 21 €
2: Partner, besondere Wohnformen 404 € 422 – 423 € 18 – 19 €
3: Haushaltsangehörige ab 18 Jahre 360 € 376 – 377 € 16 – 17 €
4: Jugendliche 14 bis 17 Jahre 376 € 393 € 17 €
5: Jugendliche 6 bis 13 Jahre 311 € 325 € 14 €
6: Kinder bis 5 Jahre 285 € 298 € 13 €

Tabelle: Regelbedarfe in SGB II und SGB XII (Monatswerte) 2022 – 2023 (Schätzung)

 

[1] Vgl. genaueres zur Berechnung in Eibl, Günther; Walz, Christian (2012): Berechnung eines regelbedarfsrelevanten Verbraucherpreisindex für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach SGB XII, in: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, S. 1122-1142, verfügbar über https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/Methoden/Downloads/vpi-berechnung-sgbxii-wista-12-2012.pdf?__blob=publicationFile&v=4.

[2] Versucht wurde dies etwa über Berichterstattungen und Bitten im Ausschuss für Arbeit und Soziales von Jessica Tatti. Trotz mehrerer Anläufe erklärte sich das BMAS nicht bereit, diese Daten zu veröffentlichen. Wir nutzen daher das parlamentarische Fragerecht, bislang mit sechs Schriftlichen Fragen (BT-Drs. 20/833, Fragen 72f; BT-Drs. 20/2170, Fragen 132f sowie BT-Drs. 20/2992, Fragen 86f).

[3] Vgl. dazu die Begründungen des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes, BT- Drs. 19/22750 und der Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a und des Teilbetrags nach § 34 Absatz 3a Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlagen zu §§ 28 und 34 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch für das Jahr 2022 (Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 – RBSFV 2022), verfügbar über https://www.bundesrat.de/drs.html?id=719-21.

[4] Rechenweg siehe BR-Drs. 719/21, S. 13f i.V. mit abgedruckter Tabelle im Fließtext. Rundung unsicher.

[5] Wert siehe BR-Drs. 719/21, S. 14

[6] Die exakten Werte der Berechnung des BMAS sind nicht bekannt. Die Werte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Fachserie 18, Reihe 1.2 (Vierteljahresergebnisse), hier mit Datenstand 25. August 2022, verfügbar über https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Publikationen/Downloads-Inlandsprodukt/inlandsprodukt-vierteljahr-pdf-2180120.pdf?__blob=publicationFile, Tabelle 1.8, Spalte 10, stimmen nicht exakt mit den Zahlen des BMAS der letzten RBSFV überein (durchschnittlicher Nettolohn 25.333 Euro vs. 25.482 Euro bzw. durchschnittliche Steigerung 2,31 vs. 2,5 Prozent), geben aber einen plausiblen Näherungswert an. Für die Angabe des Näherungswertes wurden die in Tabelle 1.8, Spalte 10 angegeben Durchschnittswerte von Quartal 3 und 4 (2020) und Quartal 1 und 2 (2021) mit denen des Folgejahres ins Verhältnis gesetzt

[7] Siehe z.B. Sebastian Dullien in einem Interview, https://taz.de/Oekonom-Dullien-ueber-Gasumlage/!5871921/

Jessica Tatti
Deutscher Bundestag

Platz der Republik 1
11011 Berlin

Astrid Nürnberg
Büroleiterin
Tel.: +49 30 227-79046
E-Mail: jessica.tatti@bundestag.de


Wahlkreisbüro
Karlstraße 16 (Eingang Mauerstraße)
72764 Reutlingen

Marc Gminder
Wahlkreismitarbeiter
Tel.: +49 (0)7121-5509911
E-Mail: jessica.tatti.wk@bundestag.de