Jessica Tatti
MdB
Auswertung der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Wohnkostenlücke 2021“ (BT-Drs. 20/2147) von Jessica Tatti u.a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Die Ergebnisse der Kleinen Anfrage BT-Drs. 20/2147 im Überblick:

  • rund 257.000 Minijobberinnen und Minijobber, 455.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und 78.000 Selbstständige in Deutschland sind trotz Erwerbstätigkeit auf Hartz IV angewiesen, um ihr Existenzminimum zu decken – insgesamt ca. 790.000 Menschen bzw. jeder fünfte erwerbsfähige Leistungsberechtigte.
  • die These, dass man sich auf Hartz IV „herausarbeiten“ könne, bestätigt sich nicht: knapp die Hälfte der aktuell erwerbstätigen Hartz IV-Empfänger ist bereits seit vier Jahren oder länger im Leistungsbezug – das ist der gleiche Wert wie unter allen erwerbsfähigen Leistungsbeziehern.
  • Auch erwerbstätige Hartz IV Empfänger werden sanktioniert.
  • Überdurchschnittlich häufig sind Beschäftigte in den Bereichen Reinigung, Lebensmittel- und Gastgewerbe, Sicherheit sowie Verkehr und Logistik auf ergänzende Grundsicherungsleistungen angewiesen.

Hintergrund

Das Arbeitslosengeld II (ALG II), umgangssprachlich „Hartz IV“ genannt, ist prinzipiell darauf ausgerichtet, die Bezieherinnen und Bezieher möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu vermitteln und somit deren Bezug von Fürsorgeleistungen mindestens zu verringern. Ein nennenswerter Teil der Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher verfügt allerdings über Erwerbseinkommen, welches in der Höhe allerdings nicht zur Deckung des Existenzminimums ausreicht. Diese Personengruppe wird auch als „Ergänzerinnen und Ergänzer“ bezeichnet.

Dem SGB II liegt das Prinzip des „Förderns und Forderns“ zugrunde, das die Möglichkeit der Leistungskürzung bzw. Sanktionierung beinhaltet. Die Fragesteller sind der Auffassung, dass dieses Prinzip insbesondere für Ergänzerinnen und Ergänzer nicht gelten kann, da diese Personengruppe gerade trotz einer Erwerbstätigkeit auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen ist. Entsprechend können viele Ergänzerinnen und Ergänzer gar nicht für den Arbeitsmarkt „aktiviert“ werden, da sie schon dort aktiv sind. Häufige Gründe für den Bezug von Leistungen der Grundsicherung trotz Erwerbstätigkeit sind niedrige Löhne, ein geringer Erwerbsumfang und/oder große Haushalte.

Das Erwerbseinkommen, das Ergänzerhaushalte erzielen, wird auf das ALG II angerechnet. Aktuell sind, nach Berücksichtigung von Abgaben, die ersten 100 Euro des Erwerbseinkommens anrechnungsfrei. Darüber liegendes Einkommen wird bis zu einer Höhe von 1.000 Euro zu 80 Prozent angerechnet. Ab 1.000 Euro bis zur Obergrenze von 1.200 Euro wird Einkommen zu 90 Prozent angerechnet. (Die Obergrenze liegt bei 1.500 Euro, falls erwerbsfähige Leistungsberechtigte mindestens ein minderjähriges Kind haben bzw. mit mindestens einem minderjährigen Kind in einem Haushalt leben.) Einkommen über der Obergrenze wird komplett angerechnet.

Nicht alle Haushalte, in denen das vorhandene Einkommen nicht zur Deckung des Existenzminimums ausreicht, erhalten ALG II. In einigen Fällen kann der Bezug von Leistungen der Grundsicherung durch vorgelagerte Leistungen abgewendet werden, vor allem durch Wohngeld bzw. Lastenzuschuss und / oder Kinderzuschlag. In sehr vielen Fällen haben Haushalte zwar ein Recht auf Grundsicherung als ergänzende Leistung, nehmen diese aber z. B. aus Unkenntnis, Scham oder aufgrund der Zugangshürden nicht in Anspruch.

Zusammenfassung und Bewertung:

Im Juni 2021 (aktuellste verfügbare Zahlen) haben rund 257.000 Minijobberinnen und Minijobber, 455.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und 78.000 Selbstständige ergänzendes ALG II erhalten, da ihr Erwerbseinkommen nicht zur Deckung des Existenzminimums ausreichte. Diese insgesamt knapp 790.000 Menschen machten gut 20 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus.

Um das Existenzminimum der erwerbstätigen Leistungsbezieher zu sichern, hat der Staat im Juni 2021 knapp 800 Millionen Euro aufgewendet – auf ein Jahr gerechnet knapp 9,5 Milliarden Euro.
Von den knapp 790.000 Menschen im Leistungsbezug, die im Referenzmonat entweder einen Minijob, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit ausgeübt haben, waren 49,0 Prozent bereits seit mindestens vier Jahren in Hartz IV. Zum Vergleich: Unter allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (unabhängig vom Erwerbsstatus) haben zu diesem Zeitpunkt 49,1 Prozent bereits seit vier oder mehr Jahren bereits Hartz IV bezogen – praktisch kein Unterschied!
Die wahre Zahl der Menschen, deren Einkommen aus Erwerbsarbeit nicht einmal zur Deckung des Existenzminimums ausreicht, dürfte allerdings deutlich über den von der Bundesregierung ausgewiesenen Zahlen liegen: Nicht mitgezählt sind Erwerbstätige, die nur deswegen kein Hartz IV erhalten, weil sie vorgelagerte Leistungen wie Wohngeld bzw. Lastenzuschuss und/oder Kinderzuschlag erhalten, oder die ihnen zustehende Sozialleistung aus Unkenntnis, Scham oder den hohen Zugangshürden nicht in Anspruch nehmen. Für diese Gruppen scheint sich die Bundesregierung auch nicht zu interessieren, jedenfalls liegen ihr keine detaillierten Daten oder belastbare Schätzungen vor. Ebenfalls nicht mitgezählt sind Menschen in Hartz IV, die vorübergehend nicht arbeiten, aber formell dennoch mit ihrem Arbeitsplatz verbunden sind und daher als „erwerbstätig“ gelten (z.B. Kranke, Elternurlauber, Schlechtwettergeldempfänger).
Die Sanktionen, die gegen Ergänzer verhängt wurden, sanken in den Jahren 2020 und 2021 auf einen historischen Tiefstand. So waren im Juni 2021 1.214 Minijobber in Hartz IV mit mindestens einer Sanktion belegt (entspricht 0,47 Prozent der Menschen im Leistungsbezug, die zu diesem Zeitpunkt ausschließlich einem Minijob nachgehen). Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Leistungsbezug wurden während dieses Monats in 1.165 Fällen mindestens einmal sanktioniert (0,26 Prozent der Betroffenen), bei Selbstständigen wurde 210 Mal mindestens eine Sanktion verhängt (0,27 Prozent). Diese Abnahme der Sanktionen ist vor allem auf die Pandemie zurückzuführen. Da hier kaum Termine bei den Jobcentern stattfanden, konnten nur sehr viel weniger Sanktionen verhängt werden. So waren vor der Pandemie im Juni 2019 noch gegen 2,63 Prozent der Minijobber, 1,43 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und 2,0 Prozent der Selbstständigen in Hartz IV mit mindestens einer Sanktion belegt.
Überdurchschnittlich häufig sind (Minijobs und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zusammengenommen) Beschäftigte in den Bereichen Reinigung, Lebensmittel- und Gastgewerbe, Sicherheit sowie Verkehr und Logistik auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Im Vergleich zwischen den Bundesländern sind die Stadtstaaten Bremen und Berlin besonders betroffen.

 

Mein Kommentar zu den Ergebnissen:

„Fast 800.000 arbeitende Menschen verdienen nicht genug, um unabhängig von Hartz IV zu leben. Sie erreichen mit ihrer Hände Arbeit nicht einmal das von der Bundesregierung kleingerechnete Existenzminimum. Hartz IV ist und bleibt ein gigantisches Subventionsprogramm für den prekären Arbeitsmarkt. Monat für Monat lässt es sich die öffentliche Hand viele hundert Millionen Euro kosten, dass Arbeitgeber mit miesen Jobs und Dumpinglöhnen ihre Profite steigern können.

Es ist ein neoliberales Märchen, dass jeder, der sich nur genug anstrengt, Hartz IV hinter sich lassen könnte. Die Hälfte der erwerbstätigen Hartz IV-Empfänger ist seit über vier Jahren im Leistungsbezug. Vom Aufstieg durch Leistung kann also für diese Menschen keine Rede sein. Ich finde, sie verdienen endlich den Respekt, den ihnen Politik und Wirtschaft vorenthalten. Sie verdienen Löhne und Arbeitsverhältnisse, die sie frei von Sozialleistungen machen.“

Jessica Tatti, MdB, Sprecherin für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

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